Der Vorleser (The Reader)

Neues aus der Reihe: Literaturverfilmungen, bei denen ich die Vorlage nicht kenne. Heute: Kate Winslet in der Rolle, die ihr den lange verdienten Oscar als beste Schauspielerin eingebracht hat. Winslet spielt Hanna Schmitz, die als Straßenbahnschaffnerin anno 1958 in einer westdeutschen Kleinstadt arbeitet. Sie beginnt ein Affäre mit dem Teenager Michael, den sie in den vielen gemeinsamen Schäferstündchen immer wieder aus Büchern der Weltliteratur vorlesen lässt. Die ohnehin nicht sehr zukunftsfähige Beziehung endet nach einigen Wochen.

Jahre später, Michael studiert inzwischen in Heidelberg Jura, steht Hanna vor Gericht. Als Wärterin imn Konzentrationslager soll sie für den Tod hunderter Menschen verantwortlich sein. Michael verfolgt den Prozess als Zuschauer, mit einer Mischung aus Mitgefühl und Zuneigung für die ehemalige Geliebte auf der einen und Betroffenheit über fehlendes Schuldbewusstsein auf der anderen Seite. In einem wichtigen Anklagepunkt könnte er den Ausgang des Verfahrens sogar beeinflussen, entscheidet sich dann aber dagegen.

„The Reader“ erzählt seine Geschichte konsequent aus der Sicht von Michael, in dessen Leben die Rahmenhandlung immer wieder zurückkehrt. Der Schwerpunkt des Films liegt ganz auf der außergewöhnlichen Beziehung seiner Hauptfiguren, und diese wird von den drei beteiligten Schauspielern (zunächst David Kross, später Ralph Fiennes als Michael und natürlich Kate Winslet) sehenswert auf die Leinwand gebracht. Winslet zeigt neben viel nackter Haut einen für Hollywood (nicht aber für sie selbst) ungewöhnlichen Mut zur Häßlichkeit und ist in den Schlüsselszenen brillant und glaubwürdig – lediglich am Ende als alte Frau wird die Makeup-Kunst etwas überdeutlich.

Was mich letztlich an „Der Vorleser“ trotz allem gestört hat, kann ich schwer in Worte packen. Etwas an der Art und Weise, wie über die Gruppe von Jura-Studenten eine rechtliche und moralische Einordnung des Geschehens zu erfolgen scheint, die dann aber doch ausbleibt; oder wie Michaels Dasein als Erwachsener keine Tiefe, kein Eigenleben hat. Auch die zu wenigen Worte, die Michael über seine Empfindungen während des Prozesses verliert sind verstörend. Auch wenn Michael ein verschlossener Charakter ist, und es also zu seiner Figur passt, ist dem Film damit nicht geholfen, weil nicht mitgefühlt werden kann, wo die Gefühle der Figur unklar bleiben.

[Spoiler]

Mit meiner Kritik stand ich gestern nach dem Kinobesuch übrigens ziemlich alleine da. Vielleicht habe ich auch einfach etwas anderes/falsches von „Der Vorleser“ erwartet. Die Konzentration auf den menschlichen, allzu menschlichen Makel des Analphabetismus und die Beziehung zwischen „Vorleser“ und Zuhörerin jedenfalls konnte mich nicht wirklich fesseln. Nimmt man die etwas vorhersehbaren und ebenfalls wenig aussagekräftigen Enden hinzu schrammt der Film doch recht deutlich an dem von mir so gerne verliehenen Prädikat „Großes Kino“ vorbei.

Bei allem Gemecker hier soll aber eins auch klar sein: „The Reader“ ist ein Film, der bewegt und zum Diskutieren anregt, ist großartig gespielt und wagt sich an eine heikle Geschichte. Das können viel zu wenige Filme von sich behaupten.

3/5